»Traumata sind vielleicht die am meisten gemiedenen, ignorierten, verharmlosten, verleugneten, missverstandenen und unbehandelten Ursachen menschlichen Leidens.« Peter Levine

Hast du dich je gefragt, warum bestimmte Beziehungsmuster sich in deinem Leben wiederholen? Warum manche Situationen dich unverhältnismäßig stark belasten? Oder weshalb du manchmal Reaktionen in dir spürst, die dir selbst übertrieben erscheinen?

Bis zu meinen Vierzigern habe ich nie über Trauma nachgedacht, geschweige denn geahnt, dass ich zu der Gruppe traumatisierter Menschen gehöre.

Was wir über Trauma oft missverstehen

Dr. Gabor Maté beschreibt treffend: „Die übliche Vorstellung von Traumata beschwört Bilder von katastrophalen Ereignissen herauf: Orkane, Missbrauch, grobe Vernachlässigung und Krieg. Das hat den unbeabsichtigten und irreführenden Effekt, dass Traumata in den Bereich des Abnormalen, Unüblichen, Außergewöhnlichen verwiesen werden. Wenn es eine spezielle Gruppe von Menschen gibt, die wir als »traumatisiert« bezeichnen, muss das bedeuten, dass die meisten von uns es nicht sind.“

Und genau hier liegt das Dilemma: Wir erkennen toxische Verhaltensweisen in unserer Herkunftsfamilie sehr lange nicht als solche, weil sie für uns normal sind. Als Kinder hinterfragen wir selten die gegebenen Strukturen; stattdessen suchen wir Wege, uns an die Rahmenbedingungen anzupassen. Und wenn das nicht oder nur unzureichend gelingt, zweifeln wir nicht an den Rahmenbedingungen, sondern in der Regel an uns selbst.

Schocktrauma vs. Bindungstrauma

Die katastrophalen Ereignisse, die wir unmittelbar mit Trauma verbinden, fallen unter den Begriff Schocktrauma. Dabei handelt es sich meist um ein einmaliges, einschneidendes Erlebnis. Für den Kontext dieses Buches* mag ich jedoch mein Augenmerk auf Kindheitstrauma – auch Entwicklungstrauma und im folgenden Bindungstrauma genannt – lenken.

Wenn es um die Frage geht, was Bindungstrauma ist, sollten wir zunächst einen Blick darauf werfen, was wir als Kinder brauchen, um uns gesund zu entwickeln. Was es benötigt, damit unser Nervensystem optimal reift und wir gut in Beziehung gehen und mit den Hochs und Tiefs des Lebens flexibel umgehen können.

Eine gesunde Bindung ist der Nährboden für Sicherheit und Vertrauen

Die Bindungsforschung betont, dass wir vor allem in den ersten Lebensjahren – von der Zeit im Mutterleib bis etwa zum siebten Lebensjahr – sensible und schutzlose Wesen sind. Nicht nur unser Überleben, sondern auch unsere psychische, emotionale und soziale Entwicklung hängen von der Qualität der Beziehung zu unseren primären Bezugspersonen ab.

Dabei können wir uns das Nervensystem der erwachsenen Menschen wie einen Sendemasten vorstellen und das sich noch entwickelnde und auf Regulierung von Außen angewiesene Nervensystem des Kindes als sensiblen Empfänger.

Ein Erwachsener, der selbst gut reguliert ist, agiert wie ein starker, stabiler Sendemast. Sind wir mit solch einer Bezugsperson gesegnet, die zuverlässig und prompt auf unsere Bedürfnisse reagiert, uns verlässlich Nähe und Schutz bietet und uns liebevoll dabei unterstützt, unser Selbst – inklusive all unserer Emotionen – kennenzulernen und auszudrücken, entsteht eine sichere und vertrauensvolle Bindung.

In erster Linie entwickeln wir so ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühl. Zudem das Vertrauen, dass wir gut sind, so wie wir sind und ausreichend Sicherheit, um die Welt zu erkunden, uns auszuprobieren und aus unseren Fehlern zu lernen. Auf diese Weise stabilisiert sich unser Nervensystem: Wir lernen nicht nur mit Stress und Herausforderungen umzugehen, sondern auch unsere Emotionen selbst zu regulieren.

Durch eine emphatische, verlässliche Bezugsperson erfahren wir zudem, dass es sicher ist, anderen Menschen zu vertrauen und auf sie zuzugehen. Nähe und Trost zuzulassen. Wir wissen, dass wir alles sagen und fragen dürfen. Jederzeit um Hilfe bitten, weil unsere Hilferufe gewiss beantwortet werden. Wir spüren diese zuversichtliche Rückendeckung und entwickeln so ein tiefes Urvertrauen ins Leben. Ein zuversichtliches „Ich bin willkommen und sicher hier!“

Bindungstrauma: Wenn Vertrauen und Sicherheit fehlen …

Ich bin mit einem cholerischen Alkoholiker aufgewachsen, der explodierte, wenn er einen Schnaps zu viel hatte. Gleichzeitig erinnere ich mich, wie er mich lachend im Arm hielt, also auch einen sehr liebevollen Anteil in sich trug.

In meiner Bildsprache ist solch ein nicht gut reguliertes Erwachsenennervensystem vergleichbar mit einem gestörten Sendemasten. Es sendet möglicherweise unregelmäßige oder widersprüchliche Signale aus, die von der eigenen, inneren Instabilität geprägt sind.

Auch diese Signale erreichen uns als junge Empfänger, doch statt beruhigende Schwingungen zu erzeugen, können sie Verwirrung, Unsicherheit oder Angst in uns auslösen. Wie oben erwähnt, brauchen wir als Kinder jedoch genau in solchen emotional herausfordernden Momenten eine zuverlässig-unterstützende Begleitperson. Fehlt so ein Mensch, dem wir uns jederzeit anvertrauen und von dem wir emotionale Regulierung lernen können, entsteht in uns ein Mangel an Sicherheit, Liebe und Vertrauen, was mitunter schwerwiegende Folgen hat.

An dieser Stelle ist wichtig zu verstehen, dass Entwicklungs- und Bindungstrauma NICHT zwangsläufig an einem speziellen Ereignis festgemacht werden kann. Bindungstrauma umfasst vielmehr einen breiteren Kontext von erlebten Stressoren und schädlichen Erfahrungen in engen Beziehungen – quasi alles, was das Fundament für eine sichere Bindung beeinträchtigen kann und uns in unserer gesunden Entwicklung blockiert.

Dieses Spektrum ist so vielfältig und bunt, dass feine Nuancen von Betroffenen oft nicht wahrgenommen werden, bis wir irgendwo eine Auflistung von möglichen Konsequenzen sehen und uns dann darin wieder erkennen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir darüber reden.

Bindungstrauma ist der schmerzhafte Abdruck von „zu viel“ oder „zu wenig“ in unserer Seele

Für Gabor ist „ein Trauma eine psychische Wunde, ein dauerhafter Bruch oder ein Riss im Selbst aufgrund belastender oder verletzender Ereignisse“ und diese Wunde kann uns auf vielfältige Weise zugefügt werden.

Einerseits gibt es die Kategorie des „zu viel, zu schnell, zu plötzlich“ – so wie Peter Levine Trauma definiert. Hierzu zählen emotionale, psychische und körperliche Gewalt – sei es, dass wir sie selbst erfahren oder miterleben – sexueller Missbrauch, belastende medizinische Eingriffe sowie schmerzhafte Verluste oder Trennungen.

Ein „zu viel“ kann sich jedoch auch auf deutlich subtilere Situationen beziehen, in denen ein Kind beispielsweise übermäßiger Nähe, Kontrolle, übertriebener Erwartungen oder Einmischung ausgesetzt ist. Situationen, in denen unsere Bezugspersonen es vielleicht sogar so richtig gut mit uns meinen und in ihrer besten Absicht nicht merken, dass sie gewaltig übertreiben beziehungsweise maßlos über das Ziel hinausschießen.

Dem gegenüber steht das „zu wenig“ von all dem, was wir als Kinder dringend benötigen, beispielsweise ein Mangel an liebevoller Zuwendung, aufmerksamer Begleitung und emotionaler Unterstützung seitens der Bezugspersonen. In diese Kategorie fallen übrigens auch Durchschlaftrainings, bei denen Babys lernen müssen, nachts alleine im Zimmer einzuschlafen und Bestrafungen wie die stille Treppe oder Liebesentzug.

Doch auch hier dürfen wir uns für die Feinheiten des Spektrums öffnen. Es existieren nicht nur offensichtliche Fälle von emotionaler oder körperlicher Vernachlässigung, sondern auch Situationen, in denen Familien beispielsweise aufgrund von Krankheit, Überforderung oder der eigenen (unverarbeiteten) negativen Bindungserfahrungen nicht in dem Maße präsent sein konnten, wie sie es sich vielleicht gewünscht hätten.

Bindungstrauma ist Nähe, die schadet – mit oder ohne Gewalt

Mein Vater war ein Alkoholiker, der im nüchternen Zustand recht lustig sein konnte, sich allerdings in eine Bedrohung verwandelte, wenn er betrunken war. Meine älteste Schwester (elf Jahre älter als ich) hat er im Vollrausch regelmäßig mit einem Lederriemen verprügelt oder sie zur Bestrafung auf Kohlen knien lassen. Sie musste körperliche Gewalt in ihrer extremsten Form erleben.

Ich dagegen wurde nie gewalttätig angefasst, weil meine drei großen Geschwister das zu verhindern wussten. Allerdings erlebte auch ich nahezu täglich die Gefahr, die von ihm ausging, wenn er zu viel getrunken hatte. Wie er uns voller Wut anschrie, beleidigte und beschämte. Sein verwerfliches „Wie blöd bist du eigentlich?“ hallte noch viele Jahre wie ein dunkles Echo in meinem Kopf nach.

Doch wie bereits angedeutet, fällt auch dies bereits eher in die „krasse Sparte“, was mir jahrelang nicht bewusst war, weil ich schlichtweg keinen Vergleich hatte. Als ich begann, mich mit Trauma auseinanderzusetzen, dachte ich oft: „Wenigstens wurde ich nicht verprügelt“, ohne zu bemerken, wie ich meine eigenen Erfahrungen damit kleinredete.

Umgekehrt erlebe ich in meinen Coachingsessions, wie Klientinnen sagten: „Ich wünschte, ich wäre misshandelt worden, dann hätte ich wenigstens einen guten Grund so zu sein, wie ich bin.“ Solche Aussagen erschüttern mich ungemein, weil sie das große Missverständnis rund um das Thema Bindungstrauma verdeutlichen. Nein, es muss kein gewalttätiger Übergriff stattgefunden haben, um traumatisiert zu sein!

Trauma ist im Körper gespeichert

Traumatisierend sind Situationen, in denen wir als Kinder mit unseren feinen Antennen Bedrohung spüren und Stresshormone ausschütten – um uns auf einen Kampf oder eine Flucht vorzubereiten – aber in der wir weder etwas machen noch weglaufen konnten. Momente, in denen wir uns überfordert, hilflos, ausgeliefert und in der Regel alleine fühlen, weil keine Vertrauensperson da ist, mit der wir reden können. Es gibt keine Regulierung unseres Nervensystems, so dass die ganze Anspannung und Angst weiterhin in unserem Körper arbeiten.

Und das hinterlässt Spuren. Völlig egal, ob mir täglich der Po versohlt wurde oder nur ab und zu. Ob in meinem Elternhaus ständig die Fetzen flogen oder die Situation nach wochenlangem Unterdrücken irgendwann eskalierte. Es spielt keine Rolle, ob unsere Bezugspersonen böswillig handelten oder sie nicht anders konnten. Auch nicht, dass die Umstände vielleicht extrem ungünstig waren wie bei chronischen Krankheiten.

Wenn wir als kleine Kinder Störsignale empfangen, die uns NICHT das Gefühl vermitteln, dass wir gut und richtig sind – absolut sicher und gut aufgehoben – gehen wir nicht voller Selbstbewusstsein und Vertrauen durchs Leben, sondern beginnen unsere Lebensreise mit teils enormen Startschwierigkeiten.

Trauma ist individuell

Wie bereits erwähnt geht es bei Trauma nicht um das Ereignis. Es geht vielmehr darum wie wir dieses Ereignis wahrnehmen und, was es in unserem Inneren mit uns macht. Dabei kann es unfassbar individuell sein, was uns als junge Menschen aus unserem inneren Gleichgewicht wirft.

Was für das eine Kind traumatisch wirkt, mag für ein anderes weniger belastend sein. Jeder Mensch bringt seine eigene emotionale, genetische und soziale Konstitution mit, die die Art und Weise beeinflusst, wie es auf bestimmte Umstände reagiert. Das bedeutet, dass dieselbe Situation unterschiedlich interpretiert und erlebt werden kann, abhängig von den individuellen Ressourcen, der Persönlichkeit und den Bewältigungsmechanismen.

Die sieben Kennzeichen von Trauma:

  • Trauma ist nicht das, was dir passiert; es ist das, was in dir passiert als Folge dessen, was dir widerfährt.
  • Trauma führt zu einer Entfremdung von dir selbst, deinem Wert, deinen Gefühlen, deinem Körper, anderen Menschen und der Welt.
  • Trauma prägt deine Sichtweise auf die Welt und führt zu einer Einschränkung.
  • Du übergehst deine Bauchgefühle, die dir helfen zu überleben, aufgrund von Trauma.
  • Trauma macht es schwierig, im gegenwärtigen Moment zu sein.
  • Trauma verändert dein Nervensystem.
  • Trauma beeinflusst deine Beziehungsmuster.

„Trauma ist, wenn wir nicht gesehen und verstanden werden.“ Bessel van der Kolk

Wenn der Sendemast gestört ist

Kommen wir zurück zu unserer Metapher: Wenn wir als Kinder von einem störanfälligen Sendemasten beeinflusst wurden, entwickelt sich auch unser eigenes Nervensystem nicht optimal. Wir lernen nicht, wie verlässliche Signale aussehen. Unser eigener innerer Empfänger bleibt übersensibel für Bedrohungen oder stumpft ab, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen.

Als Erwachsene werden wir dann selbst zu Sendemasten – und ohne bewusste Heilungsarbeit tragen wir die Störmuster in uns weiter. Diese Muster reichen wir dann, oft völlig unbeabsichtigt, an die nächste Generation weiter. Doch mit Bewusstsein und Heilung können wir diesen Kreislauf durchbrechen. Wir können lernen, unseren eigenen Sendemast zu reparieren und stabile, verlässliche Signale sowohl an uns selbst als auch an andere zu senden.

Fortsetzung folgt …


*Als ich im letzten Jahr die „Feder” ansetzte, um ein Buch über „Parenting with a Healthy Nervous System: Breaking the Cycle of Trauma“ (das mein Arbeitstitel) zu schreiben, flossen die Worte zunächst wie ein heilsamer Strom. Sechs Kapitel entstanden aus meinen Erfahrungen mit Klientinnen und meiner eigenen Heilungsreise. Dann – Stille. Die Worte versiegten, nicht weil die Geschichten zu Ende waren, sondern weil manchmal auch wir als Begleiterinnen Pausen brauchen, um zu integrieren.

In dieser Pause erkannte ich: Vielleicht müssen diese Worte jetzt schon hinaus in die Welt, nicht erst wenn das letzte Kapitel geschrieben ist. Denn Heilung geschieht nicht linear, sondern in Kreisen, in Begegnungen, im Austausch.

Wenn dich dieses erste Kapitel berührt hat, wenn es Resonanz in deinem Körper und deiner Seele erzeugt hat, würde ich mich über deine Rückmeldung von Herzen freuen. Denn so wie ein Kind eine sichere Bindung braucht, um zu wachsen, brauchen manchmal auch unsere kreativen Projekte eine haltende Gemeinschaft, um ihre volle Blüte zu entfalten.