In einer Welt, die ständig Optimierung von uns fordert, scheint der Kampf gegen die eigenen „Schwächen“ allgegenwärtig zu sein. Doch was, wenn genau diese vermeintlichen Probleme in Wahrheit deine größten Lehrer sein könnten? Was, wenn der Weg nicht über das „Wegmachen“ deiner Symptome führt, sondern über eine tiefe, authentische Begegnung mit dir selbst?

Der verborgene Schatz in deinem Leiden

Vielleicht kennst du es: die Depression, die dir den Alltag erschwert. Die Angst, die dich davon abhält, dein volles Potenzial zu leben. Der gefühlsgesteuerte Heißhunger, der dich immer wieder überfällt. Oder das Gefühl der Unverbundenheit, das dich trotz Erfolg und äußerer Anerkennung innerlich leer zurücklässt.

All diese wiederkehrenden Symptome weisen auf etwas Tieferliegendes hin. Sie sind keine Feinde, die bekämpft werden müssen, sondern Zeitzeugen deiner Biografie. Sie tragen wertvolle Informationen in sich und können, wenn du lernst, ihnen zu begegnen statt sie zu bekämpfen, zu deinen wertvollsten Verbündeten werden.

Wie Maria Sánchez, Begründerin von Essential Core, es ausdrückt: „Heilung will etwas von uns. Wenn es nicht um eine Linderung oder eine Beruhigung geht, sondern wirklich um tiefe Heilung, dann heilen wir natürlich für uns selbst. Und dieses Geschenk will auch weiter in die Welt.“

Das wahre Problem: Der Kampf mit dir selbst

Was wäre, wenn ich dir sage, dass nicht deine Depression, deine Angst oder dein emotionales Essverhalten dein eigentliches Problem ist? Was, wenn der wahre Schmerz in der Kluft zwischen deinem „Wunschbild“ und dem liegt, was du aktuell als deinen „Ist-Zustand“ wahrnimmst?

Diese Erkenntnis kann bahnbrechend sein: Was uns wirklich leiden lässt, ist nicht das Symptom selbst, sondern der innere Kampf, den wir gegen Teile von uns führen. Dieser Kampf bindet enorme Energie und verhindert eine tiefe Heilung.

Die moderne Forschung bestätigt zunehmend, dass traumatische Erfahrungen nicht nur unsere Psyche, sondern auch unseren Körper und sogar unsere DNA prägen können. Studien zur Epigenetik zeigen, dass Trauma-Muster sogar an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Das bedeutet: Wenn du dich deinem Trauma stellst, heilst du nicht nur dich selbst, sondern brichst potentiell auch transgenerationale Muster.

Der Ausweg: Emotionale Selbstbegleitung statt Selbstoptimierung

Der Weg aus diesem Dilemma führt laut Maria Sánchez über einen radikal anderen Ansatz: Anstatt gegen dich selbst zu kämpfen, lernst du, dich selbst emotional zu begleiten. Das bedeutet nicht, dass du alles an dir toll finden musst. Es bedeutet vielmehr, einen inneren Seinsraum zu öffnen, in dem alle deine Anteile existieren dürfen – auch und gerade jene, die du bisher vielleicht abgelehnt oder bekämpft hast.

Wie sieht emotionale Selbstbegleitung praktisch aus?

  1. Wahrnehmen statt Wegschieben: Anstatt deine schwierigen Emotionen zu unterdrücken, lernst du, sie bewusst wahrzunehmen. Was genau fühlst du? Wo spürst du es im Körper? Ohne Bewertung, ohne sofortigen Handlungsdrang.
  2. Beobachten statt Identifizieren: Du entwickelst die Fähigkeit, innere Vorgänge zu beobachten, ohne dich vollständig mit ihnen zu identifizieren. Du bist nicht deine Depression – du hast eine Seite in dir, die depressiv fühlt.
  3. Begegnen statt Bekämpfen: Du gehst in eine echte Begegnung mit den abgelehnten Teilen von dir. Du fragst: „Wer bist du? Was willst du mir sagen? Welchen Schmerz trägst du in dir?“
  4. Verstehen statt Verurteilen: Du lernst, dass jedes noch so destruktiv erscheinende Verhalten ursprünglich einen Schutz darstellt – ein Überlebensmechanismus, der dich durch schwere Zeiten gebracht hat.
  5. Integration statt Elimination: Du arbeitest nicht darauf hin, Teile von dir „loszuwerden“, sondern sie in das größere Ganze deiner Persönlichkeit zu integrieren.

Die tieferen Schichten aufdecken

Traumaheilung ist wie eine archäologische Ausgrabung: Schicht für Schicht bewegst du dich tiefer. Was zunächst wie ein reines Essproblem erscheint, kann sich als Ausdruck einer tieferen Beziehungsproblematik entpuppen. Unter einer Angststörung kann eine nicht erkannte Traumatisierung liegen.

Für viel beschäftigte Frauen – sei es als Mutter, Berufstätige oder Selbstständige – ist diese innere Arbeit besonders herausfordernd. Der Alltag fordert ständige Präsenz nach außen, während die innere Welt oft ungehört bleibt. Gerade hier liegt ein besonderes Potential: Wenn du lernst, dich selbst in der Tiefe zu begleiten, öffnest du einen Raum für authentische Präsenz, der nicht nur dir, sondern auch deinem Umfeld zugutekommt.

Jenseits des Entweder-Oder: Ein neuer Seinsraum

Für Maria Sánchez ist ein entscheidender Aspekt bei der Arbeit mit Trauma, dass wir oft im „Entweder-Oder-Universum“ gefangen sind. Wenn eine Seite in uns sagt „Ich sollte jetzt das und das tun“ und eine andere Seite widerspricht mit „Ist mir viel zu anstrengend“, dann führt jede Entscheidung zu einem inneren Konflikt.

Maria schlägt stattdessen vor, zunächst einfach wahrzunehmen, dass dieser Konflikt existiert: „Stell dir zwei Symbole auf, einmal für die Seite, die sagt, es wäre aber gut, wenn, … und die Seite, die vielleicht im Widerstand ist oder sagt: ‚Ist mir viel zu viel gerade‘.“

Der entscheidende Schritt ist dann, diese beiden Anteile aus einer dritten Position heraus zu betrachten: „Du bist zu dritt in dir“, erklärt Maria. Dieser Perspektivwechsel – die Fähigkeit, auf den Konflikt zu schauen, statt mitten drin zu stecken – öffnet einen neuen Raum. Maria beschreibt dies als das „und drumherum“, einen Raum, der außerhalb des Entweder-Oder existiert.

Die spirituelle Dimension der Heilung

Die tiefste Heilung geschieht laut Maria Sánchez, wenn psychologische und spirituelle Dimensionen sich begegnen. Hier öffnet sich ein Weg, den man als „emotionsbasierte Spiritualität“ bezeichnen könnte – ein Weg, der nicht die Emotion überspringt, um zur Spiritualität zu gelangen, sondern durch die vollständige Annahme der Emotion eine tiefere spirituelle Verbindung ermöglicht.

Diese Art von Spiritualität ist kein Bypass für schwierige Gefühle, sondern entsteht gerade durch die mutige Begegnung mit ihnen. Sie ist geprägt von einem Gefühl der zunehmenden Verbundenheit – mit dir selbst, mit anderen und mit dem größeren Ganzen.

Maria Sánchez beschreibt drei Phasen auf diesem Weg:

Mein Wille geschehe“: Die Entdeckung deines eigenen Willens, deiner eigentlichen Bedürfnisse und Grenzen.

Dein Wille geschehe“: Ein wachsendes Vertrauen ins Leben, ein Loslassen von zwanghafter Kontrolle.

Mein Wille und dein Wille sind eins“: Ein tiefes Gefühl des Gleichklangs, in dem du nicht mehr das Gefühl hast, dein Leben zu leben, sondern gelebt zu werden – im besten Sinne.

Diese Stufen bilden keinen linearen Prozess, sondern eher eine spiralförmige Bewegung, in der du immer wieder neue Ebenen erreichst und gleichzeitig mit früheren Themen in tieferer Weise arbeitest.

Praktische Wege zur Selbstbegleitung

Wie kannst du konkret beginnen, dich selbst in der Tiefe zu begleiten? Hier einige praktische Ansätze:

1. Schaffe Raum für Selbstbeobachtung

Reserviere dir regelmäßig Zeit, in der du bewusst nach innen lauschst. Dies kann durch Meditation, Journaling oder einfach durch bewusstes Innehalten geschehen. Die Qualität deiner Aufmerksamkeit ist dabei wichtiger als die Dauer.

2. Lerne, deine inneren Anteile wahrzunehmen

Wenn du innere Konflikte spürst, visualisiere die verschiedenen Seiten als separate „Anteile“. Du könntest sie symbolisch darstellen oder ihnen Namen geben. Wichtig ist: Du bist nicht diese Anteile; du bist der Raum, in dem sie existieren.

3. Kultiviere Neugierde statt Urteil

Wenn schwierige Emotionen auftauchen, versuche nicht sofort, sie zu ändern oder zu bewerten. Frage stattdessen: „Was will diese Emotion mir sagen? Woher kommt sie? Welche Erfahrung liegt ihr zugrunde?“

4. Praktiziere körperliche Präsenz

Trauma wird nicht nur im Geist, sondern auch im Körper gespeichert. Praktiken wie Yoga, Atemarbeit oder andere bewusste Körperübungen können helfen, verschüttete Emotionen zugänglich zu machen und zu integrieren.

5. Suche professionelle Unterstützung

Der Weg der Selbstbegleitung ist kraftvoll, aber nicht immer leicht. Besonders bei tiefen Traumata kann professionelle Begleitung durch ausgebildete Therapeuten unerlässlich sein. Methoden wie EMDR, Somatic Experiencing oder spezifische Ansätze wie Essential Core können wertvolle Werkzeuge auf deinem Weg sein.

Ein Brief an die Frau, die mit Trauma lebt

Liebe Leserin,

vielleicht kämpfst du seit Jahren mit wiederkehrenden Symptomen. Vielleicht hast du schon viele Wege ausprobiert – von Affirmationen über Diäten bis hin zu verschiedenen Therapien. Vielleicht fühlst du dich manchmal müde von diesem Kampf und fragst dich, ob es überhaupt einen Ausweg gibt.

Ich möchte dir sagen: Es gibt ihn. Doch er führt nicht über noch mehr Kampf gegen dich selbst, sondern über eine tiefe, liebevolle Begegnung mit allen Anteilen in dir – besonders jenen, die du bisher vielleicht abgelehnt hast.

Der Weg der Selbstbegleitung ist kein einfacher Weg, doch er ist ein Weg, der zu echter Freiheit führt. Eine Freiheit, die nicht davon abhängt, dass du perfekt bist oder alle deine „Probleme“ gelöst hast, sondern eine Freiheit, die aus dem Wissen entsteht, dass du mehr bist als deine Symptome, mehr als deine Vergangenheit, mehr als deine Kämpfe.

Du bist ein faszinierendes, vielschichtiges Wesen mit einer unglaublichen Kapazität für Heilung. Deine Wunden können zu Quellen der Weisheit werden. Deine Narben können zu Zeugnissen deiner Stärke werden.

Der erste Schritt auf diesem Weg ist eine simple, jedoch revolutionäre Erkenntnis: Es ist nichts falsch mit dir. Deine Symptome, deine Ängste, deine Kämpfe – sie alle haben ihren Ursprung in Schutzstrategien, die du entwickelt hast, um zu überleben. Sie verdienen nicht Verurteilung, sondern dein volles Verständnis.

Denn nur von diesem Verständnis aus kann Heilung geschehen – nicht als etwas, das du dir erkämpfen musst, sondern als etwas, das sich natürlich entfaltet, wenn du den Raum dafür öffnest (siehe auch: Vom Kampf zur Selbstannahme).

Der Weg geht weiter

Denk dran: Trauma-Heilung und Selbstannahme sind keine einmaligen Ereignisse, sondern fortlaufende Prozesse. Es gibt Fortschritte und Rückschläge, Durchbrüche und Herausforderungen. Doch mit jedem Schritt, den du in Richtung Selbstbegegnung machst, öffnest du die Tür zu einem authentischeren, freieren Leben.

Erinnere dich auf deinem Weg stets an Marias Worte: „Wenn sich nichts mehr wandeln muss, wandelt es sich automatisch.“ Denn das Paradoxon der Heilung liegt darin, dass sie oft erst dann geschieht, wenn wir aufhören, sie zu erzwingen.

Dieser Artikel basiert auf einem Interview mit Maria Sánchez, Traumatherapeutin und Gründerin von Essential Core. Ihre Arbeit verbindet psychologische und spirituelle Dimensionen der Heilung und bietet einen Weg der emotionalen Selbstbegleitung als Alternative zu gängigen Optimierungsansätzen.